
Anrechnung von Rentenansprüchen in der EU
Die Anrechnung von Rentenansprüchen in der Europäischen Union (EU) ist ein zentrales Thema für Arbeitnehmer, die in verschiedenen Mitgliedstaaten tätig waren, was immer öfter vorkommt. Diese Thematik wird durch die folgenden Verordnungen geregelt:
- die Verordnung (EG) Nr. 883/2004, die gemeinsame Prinzipien für Sozialversicherungsträger der EU-Staaten aufstellt und
- die Verordnung (EG) Nr. 987/2009, die die Anwendungsmodalitäten aufstellt.
Die europäischen Regeln sollen sicherstellen, dass Bürger ihre Rentenansprüche über Landesgrenzen hinweg behalten können. Es soll nämlich nicht passieren, dass ein Arbeitnehmer keinen bzw. keinen vollen Anspruch auf Rente hat, weil er in diesem EU-Land nicht lange genug Rentenbeiträge geleistet hat. Es wird im Europarecht dafür gesorgt, dass Arbeitszeiten, die in einem EU-Land geleistet wurden, in einem anderen EU-Land nicht ignoriert werden.
Beantragung der Rente und Abwicklung der Rentenzahlung
Antrag auf Rente in jedem Land und Koordination
Jeder Mitgliedstaat, in dem der Arbeitnehmer einem Rentensystem angehört hat, berechnet die erworbenen Ansprüche auf der Grundlage seiner spezifischen nationalen Vorschriften. Wenn der Arbeitnehmer das Rentenalter erreicht, kann er einen einheitlichen Antrag bei dem zuständigen Träger in dem Land stellen, in dem er wohnt oder in dem er zuletzt gearbeitet hat. Diese Stelle koordiniert das Verfahren dann mit den Trägern der anderen betroffenen Mitgliedstaaten.
In anderen Worten: Hat ein Arbeitnehmer in Frankreich, Deutschland und Spanien gearbeitet, sind diese drei Länder für einen Teil seiner Rente zuständig. Spanien ist, als letztes Land in dem der Arbeitnehmer tätig war, allerdings dafür verantwortlich, die Rentenansprüche bei den Behörden der anderen betroffenen Mitgliedstaaten zu ermitteln und zu koordinieren.
Koordination der EU-Länder dank dem EESSI seit 2024
Die Koordinierung stellt sicher, dass die in verschiedenen Ländern zurückgelegten Versicherungszeiten zusammengerechnet werden und somit die Mindestvoraussetzungen für den Bezug einer Rente erfüllt sind. Jeder Staat zahlt dann seinen Anteil an der Rente, die sogenannte proratisierte Rente, die im Verhältnis zu den in seinem Hoheitsgebiet zurückgelegten Versicherungszeiten berechnet wird. Dieser Mechanismus verhindert doppelte Beiträge und stellt sicher, dass bei der Berechnung von Rentenansprüchen keine Arbeitszeiten verloren gehen.
Dank dieses Systems genießen europäische Arbeitnehmer Rechtssicherheit und Kontinuität bei ihren Ansprüchen, trotz der Vielfalt der nationalen Systeme. Es ist jedoch wichtig, seine Beschäftigungs- und Beitragszeiten gut zu dokumentieren, um die Koordinierung zwischen den Mitgliedstaaten zu erleichtern und Verzögerungen bei der Feststellung von Ansprüchen zu vermeiden.
Konkret bedeutet das, die Anrechnung von Rentenansprüchen innerhalb der Europäischen Union (EU) sowie Island, Liechtenstein, Norwegen, Großbritannien und der Schweiz ist technisch durch einen Datenaustausch zwischen den Ländern möglich. Das Verfahren heißt Elektronischer Austausch von Informationen der sozialen Sicherheit (EESSI). Seit Mai 2024 funktioniert der elektronische Austausch in allen Ländern vollständig. Dadurch ist es möglich, Versicherungs- und Beschäftigungszeiten in verschiedenen EU-Ländern schnell und einfach zu berücksichtigen und die entsprechenden Renten auszuzahlen.
Meilensteine von der Idee bis zum EESSI
1971
Die EU in ihrer heutigen Form gab es noch nicht. Dafür ihre Vorläuferin, die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG). Die Länder wollten einen gemeinsamen Markt schaffen. Arbeitnehmer und Selbstständige sollten ihren Arbeitsort frei wählen können.
Die EWG wollte deshalb im Bereich der Sozialversicherung schon früh eine Koordinierung der Regeln in den jeweiligen Ländern und die Gleichbehandlung der Arbeitnehmer und Selbstständigen. Die Menschen sollten bei der Sozialversicherung keine Nachteile dadurch erfahren, dass sie z.B. in mehreren Ländern arbeiten. Unter anderem sollte sichergestellt werden, dass eine Rente nicht gekürzt wird, nur weil der Rentner in einem anderen Land wohnt als in dem Land, in dem seine Rentenversicherung sitzt.
Die Länder der EWG beschlossen deshalb die Verordnung (EWG) 1408/71 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbstständige.
Erweiterungen der EU
In den folgenden rund dreißig Jahren kamen immer mehr Länder zur Gemeinschaft hinzu. Die EWG wurde 1993 zur Europäischen Gemeinschaft (EG). Es ergingen mehrere Entscheidungen des Gerichtshofs zur Gleichstellung im Sozialrecht. Diese Urteile wurden mit weiteren Regeln unter und in den Ländern umgesetzt. Die Koordinierung von Rentenansprüchen war unübersichtlich geworden. Außerdem dauerte der Austausch von Informationen zwischen den Ländern über Rentenversicherungsdaten lange. Er erfolgte überwiegend in Papierform per Post.
2004
Die Länder wollten die wesentlichen Grundsätze zusammenfassen und den Austausch von Informationen vereinfachen. Sie ersetzten die Verordnung von 1971 durch die EG-Verordnung 883/2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit.
Diese Verordnung stellt insbesondere Folgendes klar. Ein Land, wenn es darüber entscheidet, ob jemand bestimmte Versicherungszeiten oder Beschäftigungszeiten erfüllt, muss diejenigen Zeiten berücksichtigen, welche die Person nach den Rechtsvorschriften eines anderen Landes geleistet hat.
Die Verordnung enthält auch besondere Vorschriften für Grenzgänger in Rente.
Die Länder setzen sich außerdem bereits 2004 dafür ein, elektronische Datenverarbeitungsdienste zu entwickeln.
2009
Die Länder einigen sich mit der EG-Verordnung 987/2009 auf konkrete Maßnahmen und Verfahren für die Umsetzung der Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherung.
Sie sehen vor, dass der Austausch von Daten zwischen den Ländern elektronisch erfolgen soll.
Parallel wird im gleichen Jahr die EG zur EU.
So entstand schließlich das EESSI als ein Projekt der EU.
2024
Im Mai 2024 wurde der elektronische Austausch schließlich vollendet.
Anrechnung von Rentenansprüchen aus der EU: 2 Beispiele
Fall 1: Berücksichtigung von Beitragsjahren aus der Arbeit in einem anderen EU-Staat
Eine Arbeitnehmerin arbeitete vier Jahre lang in einem anderen EU-Mitgliedstaat. Diese Zeit muss im Land ihrer Sozialversicherung bei der Berechnung der Gesamtversicherungszeit miteinbezogen werden. Der europäische Gerichtshof hat zum Beispiel in der Entscheidung in vom 3. März 2011 (Nr. C-440/09) diesen Grundsatz klargestellt.
Eine Frau hatte in Polen Beitragszeiten von 181 Monaten, beitragsfreie Zeiten von 77 Monaten sowie Beschäftigungszeiten im landwirtschaftlichen Betrieb ihrer Eltern von 56 Monaten zurückgelegt. Ferner hatte sie im Gebiet der ehemaligen Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik Beitragszeiten von 49 Monaten geleistet. All diese Rentenversicherungszeiten können nach polnischem Recht für den Erwerb der Altersrente in Betracht gezogen werden. Allerdings werden beitragsfreie Zeiten bei der Feststellung des Anspruchs auf eine Altersrente nur berücksichtigt, soweit sie ein Drittel der nachgewiesenen Beitragszeiten nicht übersteigen. Die erforderliche Mindestzeit für den Erwerb der Altersrente der Klägerin betrug 30 Jahre, d.h. 360 Monate.
Die polnische Rentenversicherung ging davon aus, dass die in einem anderen Mitgliedstaat zurückgelegten Beitragszeiten nicht berücksichtigt werden müssen, wenn es um die Bestimmung der Drittelgrenze geht, bei welcher die beitragsfreien Zeiten ins Verhältnis zu den Beitragszeiten gesetzt werden, um zu bestimmen, bis zu welcher Grenze beitragsfreie Zeiten berücksichtigt werden können.
Daher wurden nicht die gesamten rentenbeitragsfreien Zeiten von 77 Monaten der Klägerin für die Berechnung der Mindestzeit für den Erwerb der Altersrente berücksichtigt. Denn die polnische Rentenversicherung ging davon aus, dass die rund 77 Monate ins Verhältnis zu den Beitragszeiten 181 Monaten zu setzen seien und somit die Drittelgrenze bei 60 Monaten läge, so dass die darüber hinausgehenden 17 Monate unberücksichtigt zu bleiben hätten. Der Antrag auf Altersrente der Klägerin wurde infolgedessen abgelehnt, da ohne Berücksichtigung dieser gesamten 77-monatigen beitragsfreien Zeit die Mindestzeit von 360 Monaten nicht erreicht war.
Zeiten | Polnische Rechnung | Rechnung des EuGH | |
Beitragszeiten in Polen | 181 Monate | 181 Monate | 181 Monate |
beitragsfreie Zeiten | 77 Monate | 1/3 von 181 Monaten= 60 Monate | 1/3 aus der Summe aus 181 und 49 Monaten= 76 Monate |
Zeiten in der Landwirtschaft | 56 Monate | 56 Monate | 56 Monate |
Beitragszeiten in Tschechien | 49 Monate | 49 Monate | 49 Monate |
Summe | 346 Monate | 362 Monate |
Der EuGH entschied, dass nach Europarecht alle zurückgelegten Rentenversicherungszeiten berücksichtigt werden müssen. Daher müssen die für die Rente in allen anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union zurückgelegten Versicherungszeiten den im Inland zurückgelegten Versicherungszeiten gleichgestellt werden.
Die Nichtberücksichtigung der Versicherungszeit im Gebiet der ehemaligen Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik hätte dazu geführt, dass die beitragsfreien Zeiten bei Wanderarbeitnehmern in weniger günstigere Weise berücksichtigt werden als bei Personen, die verhältnismäßig lange Beitragszeiten in Polen nachweisen können.
Der EuGH bestätigt, dass der europarechtliche Grundsatz der Gleichbehandlung von Arbeitnehmern, die ausschließlich in ein und demselben Land gearbeitet haben, und solchen, die auch im Ausland gearbeitet haben, ein wesentlicher Grundsatz ist, der insbesondere bei der Berechnung der Mindestdauer für den Erwerb eines Anspruchs auf eine Altersrente Anwendung finden muss. So müssen im Ausland zurückgelegte Beitragszeiten grundsätzlich immer berücksichtigt werden.
Die polnische Regierung hatte übrigens vor dem EuGH vorgetragen, dass die Nicht-Berücksichtigung der im Ausland erworbenen Versicherungszeiten durch den Verwaltungsaufwand gerechtfertigt seien. Der EuGH hat darauf hingewiesen, dass die Ausübung der Freizügigkeit keine anderen Grenzen zulasse als diejenigen, die aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigt werden können. Daher dürfen administrative Schwierigkeiten keine Beeinträchtigung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer rechtfertigen. Mit dem EESSI ist der Einwand des Verwaltungsaufwand nunmehr weggefallen.
Gleichermaßen sind die nach Sozialversicherungsrecht in Frankreich anerkannten Rentenzeiten in Deutschland anzuerkennen und umgekehrt.
Fall 2: Berücksichtigung von Kindererziehungszeiten im EU-Ausland für die Rente
Bereits 2012 hatte der EuGH entschieden, dass ein deutscher Rentenversicherungsträger Kindererziehungszeiten im Ausland bei einer Rentnerin berücksichtigen muss, die unmittelbar vor der Kindererziehung Beiträge in die deutsche Rentenversicherung gezahlt hatte und aus rein familiären Gründen vorübergehend im Ausland lebte und ihre Erwerbstätigkeit in Deutschland für diese Zeit unterbrochen hatte (EuGH, Urteil vom 19. 7. 2012 – C-522/10). Aus Sicht des Gerichts bestand eine Verbindung zwischen den Zeiten, in denen die Rentnerin als Arbeitnehmerin in Deutschland Beiträge geleistet hat und der Kindererziehungszeit im Ausland.
Vor diesem Hintergrund befasste sich der EuGH In einer Entscheidung vom 22.2.2024 (C 283/21) mit einem Streit zwischen einem deutschen Rentenversicherungsträger und einer deutschen Rentnerin über die Anerkennung von Kindererziehungszeiten, die sie in den Niederlanden geleistet hatte. Die Lebenssituation war jedoch etwas anders als in dem 2012 entschiedenen Fall.
Die Rentnerin war 1958 in Deutschland geboren. Sie wohnte Zeit ihres Lebens weit überwiegend in den Niederlanden, nämlich ab dem Alter von 4 Jahren bis zum Alter von 52 Jahren in dem sie nach Deutschland zurückkehrte.
Ihre Schul- und Berufsausbildung absolvierte die Rentnerin in Deutschland. Nach Abschluss ihrer Ausbildung ging sie jedoch nicht sofort einer Tätigkeit nach, sondern bekam zunächst zwei Kinder. Sie widmete sich sodann mehr als 12 Jahre lang der Erziehung ihrer Kinder in den Niederlanden, ohne einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Später arbeitete sie in Deutschland.
Ab 2018 bezog sie in Deutschland eine Rente wegen voller Erwerbsminderung, wobei der über 12-jährige Zeitraum, in welchem sie zwar in Deutschland nicht zur Rentenversicherung beigetragen, aber in den Niederlanden Kinder aufgezogen hatte, bei der Berechnung der Rente in Deutschland nicht berücksichtigt wurde.
Die Rentnerin verlangte, dass diese Kindererziehungszeit berücksichtigt wird.
Der deutsche Rentenversicherungsträger lehnte das ab. Die Argumente der Rentenversicherung waren die folgenden:
- Die Kinder wurden nicht in Deutschland aufgezogen.
- Während der Kindererziehungszeit oder kurz davor wurden keine Rentenversicherungszeiten in Deutschland zurückgelegt.
- Zum Zeitpunkt der Geburt der Kinder war die Rentnerin nicht in Deutschland erwerbstätig.
Die Rentnerin klagte gegen die Rentenversicherung. In der ersten Instanz wurde ihre Klage abgewiesen. Die Rentnerin legte Berufung ein. Das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen rief wiederum den EuGH an und stellte folgende Frage:
Muss der deutsche Rentenversicherungsträger die Kindererziehungszeiten in den Niederlanden berücksichtigen, weil eine hinreichende Verbindung zwischen den Kindererziehungszeiten und den im deutschen Rentenversicherungssystem zurückgelegten Zeiten besteht, obwohl von der Rentnerin nicht unmittelbar vor der Kinderziehungszeit Beiträge zur deutschen Rentenversicherung geleistet wurden?
Der EuGH hat dies bejaht. Er führte an, dass die Ausbildungszeiten vor der Kindererziehungszeit in Deutschland erfolgt sind und die Rentnerin nach der Kindererziehung in Deutschland arbeitete. Für den EuGH spielt es keine Rolle, ob die Rentnerin unmittelbar vor und nach der Kinderziehungszeit Beiträge in die Rentenversicherung in dem leistungspflichtigen Staat (hier Deutschland) gezahlt hat.
Ob und wie Kindererziehungszeiten bei grenzüberschreitendem Wohnen und Arbeiten berücksichtigt werden können kommt immer auf den Einzelfall an, insbesondere darauf, ob Kindererziehung einer Erwerbstätigkeit nach dem Recht der betreffenden Länder gleichgestellt ist wie dies nach deutschem und frz. Recht jeweils der Fall ist.
Fazit
Die EU hat durch ihre Verordnungen zur Anrechnung von Rentenansprüchen einen bedeutenden Schritt zur Sicherung der Altersversorgung mobiler Arbeitnehmer gemacht. Arbeitnehmer, die in mehreren Mitgliedstaaten gearbeitet haben, sollten sich über ihre Ansprüche und die Beantragungsmodalitäten gut informieren, um im Ruhestand die ihnen zustehenden Leistungen zu erhalten. Anhand der Beispiele aus Gerichtsverfahren sieht man aber, dass es immer wieder Unklarheiten gibt.
Françoise Berton, französische Rechtsanwältin
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